Wir schreiben das Jahr 1950.
Unter den zahlreichen Aktivitäten der Jugend, besonders der Studenten, sticht die gut geplante Aktion von 300 jungen Menschen hervor. Am 6. August 1950 demonstrierten sie an der deutsch-französischen Grenze bei Wissembourg/Weiler und St. Germanshof und rissen dort die Schlagbäume der Zollhäuser ein. Es versammelten sich Männer und Frauen, Studenten, Professoren, Politiker und Journalisten aus 9 verschiedensten europäischen Ländern, die alle an die Idee eines vereinten Europas glaubten. „Offene“ Grenzen mittels einer europäischen „Kennkarte“ und ein föderales Europa waren wesentliche Forderungen der damals verfassten und verlesenen Erklärung.
Zu den Persönlichkeiten, die für ein föderales Europa besonders engagiert waren, gehörten zwei Männer, die nach dem ersten Weltkrieg aus Georgien nach "Europa" geflohen waren und dort wissenschaftlich Karriere gemacht hatten: Alexandre Marc und Michel Mouskhély. Europa sahen sie daher mit ihrem eigenen Weitblick - es war das Europa der Zukunft und der Jugend. Sie wollten mehr Aktion, ernsthafte Auseinandersetzungen und sich aktiv für die Einigung Europas einsetzen. Um dies zu erreichen, gründete Mouskhély die Organisation "Union Fédéraliste Interuniversitaire (UFI)". Gemeinsam mit Marcel Mille, dem Sprachlehrer aus Paris, arbeitete Mouskhély an der Realisierung der öffentlichkeitswirksamen Aktion.
Eine besondere Herausforderung war die Vorbereitung der Öffentlichkeitsarbeit. Hierzu konnte Mille seine Kontakte nutzen und Reporter von Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkanstalten auf die vorgesehene Grenzaktion aufmerksam machen. Um eine große Anzahl junger Akteure zu gewinnen gab es u.a. Unterstützung von der Organisation "Jeunesse Fédéraliste Européenne" und dem Bund Europäischer Jugend, welche zu der Aktion am St. Germanshof aufriefen.
Nachdem das Aktionsziel klar, der Termin festgelegt und die Akteure europaweit angesprochen waren, konnte mit den konkreten Vorbereitungen begonnen werden. Dazu wurde in Zeltlagern auf deutscher und französischer Seite geprobt - denn eine überraschende Demonstration mit Jugendlichen aus verschiedenen Ländern konnte nicht ohne Training gelingen. Die Teilnehmer besprachen ihr Vorgehen, verteilten einzelne Aufgaben und probten, wie sie mit den Zollbeamten und zu erwarteten Protesten umgehen würden.
Am 6. August 1950, einem Sonntag mit bestem Sommerwetter, machten sich die Studenten auf den Weg an die Grenze. Als Tarnung fuhren sie mit mehreren Reisebussen an verschiedenen Stellen über den Rhein zu einem Waldstück nahe der Grenze am St. Germanshof. Marcel Mille stand mit seiner Gruppe auf der deutschen Seite bereit - Michel Mouskhély auf französischer Seite. Der französische Zöllner René Reiffel bemerkte zunächst eine junge Frau, die - als Ablenkungsmanöver eine Ohnmacht vortäuschend - auf ihn zutorkelte. Besorgt kümmerte er sich um die 23-jährige Studentin Jeanette Lüthi aus Bern, während nach und nach weitere Jugendliche ans Zollhaus kamen. Die Zöllner auf deutscher Seite wunderten sich über das große Interesse der "Wanderer" und bemerkten die mitgebrachten Utensilien zur Demontage des Schlagbaums zunächst nicht.
Die Freunde aus Frankreich waren schneller auf der deutschen Seite, da der hölzerne Schlagbaum dort leicht zu bewältigen war. Die deutschen Studenten hatten unerwartet einen eisernen Schlagbaum vor sich, der kurz zuvor neu installiert wurde. Die Lösung kam von französischer Seite, als die Demonstranten mit weiteren Grenzutensilien zu Hilfe kamen. Gemeinsam stürmten sie auf den Schlagbaum zu und konnten ihn schließlich ansägen bis er brach. "Vive l'Europe" schrien die Demonstranten und fielen sich in die Arme.
Der gewählte Tag hatte große Symbolkraft. Es war der 80. Jahrestag der Schlacht bei Wörth / Reichshoffen, die am 6.8.1870 fast 25.000 Franzosen und Deutschen das Leben kostete. Und am nächsten Tag fand in Straßburg die zweite Sitzung des Europarates statt.